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Neurowissenschaften

Unser Cortex in Nanometer-Auflösung

Ultrafeine Kartierung von Zellen und Verknüpfungen im menschlichen Gehirn enthüllt Unerwartetes

Hirngewebe
Diese digitalisierte Ansicht zeigt alle exzitatorischen Neuronen und ihre Verbindungen in diesem Ausschnitt der Cortex-Probe. Die Zellkörper sind zwischen 15 und 30 Mikrometer groß. © Google Research & Lichtman Lab/ Harvard University. Renderings by D. Berger/ Harvard University

150 Millionen Synapsen und 57.000 Zellen – sie stecken in nur einem Kubikmillimeter unseres Hirngewebes, wie eine neuartige Ultrafein-Kartierung des menschlichen Cortex enthüllt. Sie zeigt die Zellen, Verknüpfungen und subzellularen Strukturen unserer Hirnrinde bis auf den Nanometer genau und liefert gleich mehrere Überraschungen. So ist die Neuronendichte geringer als erwartet, dafür sind einige Hirnzellen gleich mehrfach miteinander verknüpft, andere zeigen eine noch unerklärte Ausrichtung, wie das Team in „Science“ berichtet.

Unser Gehirn ist ein hochkomplexes Organ aus mehr als 160 Milliarden Zellen, die durch Billionen von Verknüpfungen verbunden sind. Wie genau die Hirnzellen miteinander interagieren, welche Funktionen sie haben und welche Zellvarianten es im Gehirn gibt, ist allerdings erst in Teilen geklärt. Zwar haben Neurowissenschaftler bereits einen Atlas der Hirnareale und der Verknüpfungen erstellt und auch erste Zellkartierungen des menschlichen Cortex durchgeführt. Der detaillierte Gesamtblick auf Zellen, Verknüpfungen und Funktionen fehlt jedoch bisher.

Schläfenlappen
Die Probe wurde aus der Hirnrinde des Schläfenlappens entnommen (Pfeil). © Google Research

Bis auf subzellulare Strukturen genau

Jetzt gibt es neue Einblicke in unser Denkorgan: Ein Team um Alexander Shapson-Coe von der Harvard University hat erstmals die vollständige Ultrafeinstruktur eines winzigen Würfels aus der menschlichen Hirnrinde abgebildet und kartiert. Die Probe, ein nur 170 Mikrometer dünnes Scheibchen aus dem Schläfenlappen einer Epilepsie-Patientin, umfasst alle Schichten des Cortex und zeigt Zellen, Zellverbindungen, Blutgefäße und andere Strukturen in intakter Anordnung.

„Die Probe enthält rund 57.000 Zellen, 150 Millionen Synapsen und rund 230 Millimeter an Blutgefäßen“, berichten die Forschenden. Für ihren Scan zerteilten sie diese Hirngewebsprobe in gut 5.000 nanometerdünne Scheiben, die sie mit einem Multibeam-Elektronenmikroskop durchleuchteten. Diese bildete die Strukturen in einer Auflösung von vier Quadratnanometer ab und erlaubte es so, einzelne Zellen und Zellverbindungen sichtbar zu machen und digital zu rekonstruieren.

Neuron
Aus dem Scan isolierte Ansicht einer Hirnzelle mit ihren Synapsen (grün) und eingehenden Axonverbindungen (blau). © Google Research & Lichtman Lab/ Harvard University. Renderings by D. Berger/ Harvard University

Abweichende Dichte und rätselhafte Dendriten-Ausrichtung

Schon die ersten Analysen enthüllten einige unerwartete Funde. Der erste: „Die Dichte der Neuronen lag insgesamt bei rund 16.000 Zellen pro Kubikmillimeter“, berichten Shapson-Coe und sein Team. „Das ist rund ein Drittel niedriger als zuvor mittels Lichtmikroskopie des Schläfenlappens geschätzt und fast zehnmal geringer als die Dichte der vergleichbaren Hirnregion bei der Maus.“ Sie zählten in ihrer Probe gut 49.000 Neuronen und Gliazellen – letztere überwogen im Verhältnis 2:1 – sowie 8.100 mit den Blutgefäßen assoziierte Zelltypen.

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In der tiefsten, durch besonders viele verschiedenen Zelltypen gekennzeichneten Schicht des Cortex, stießen die Wissenschaftler auf eine zweite Überraschung. Sie betraf die dort vorkommenden Dreiecks- oder Kompasszellen, eine Gruppe von Neuronen, die statt einer relativ gleichmäßigen „Schürze“ aus feinen Dendriten-Fortsätzen an ihrer Basis einen besonders großen Dendriten besitzen.

Die neue Kartierung enthüllte, dass diese Neuronen zwei Gruppen bilden, die sich anhand der Ausrichtung ihrer basalen Dendriten unterscheiden lassen: Diese zeigen in jeweils entgegengesetzte Richtungen. „Welche Funktion hinter dieser bimodalen Verteilung der Dreieckszellen und ihrer basalen Dendritenrichtungen steckt, ist noch unbekannt und muss noch ermittelt werden“, schreibt das Team.

Überraschend verknäulte Axone

Ebenfalls überraschend war ein Fund, der die Axone betrifft – die Nervenfasern, die elektrischen Signale von der Hirnzelle wegleiten. Sie sind über Synapsen mit den feinen Dendriten anderer Hirnzellen verbunden. Typischerweise ist dabei jedes Zellpaar immer nur mit einer solchen Synapse verknüpft. „Frühere Studien haben aber gezeigt, dass es bei Ratten auch einige Axone gibt, die über mehrere Synapsen mit derselben Zelle verbunden sind – wir wollten daher schauen, ob es das auch beim Menschen gibt“, erklären Shapson-Coe und seine Kollegen.

Axon-Knäuel
Einige Axone (blau) bilden unerwartet viele synaptische Verbindungen zur selben Nachbarzelle (gelb) aus und bilden dabei zuvor unbekannte Knäuel. Wozu sie dienen, ist offen. © Google Research & Lichtman Lab/ Harvard University. Renderings by D. Berger/ Harvard

Und tatsächlich: Insgesamt 39 Prozent der Neuronen waren über sieben oder mehr Synapsen mit demselben Axon einer Nachbarzelle verknüpft. Bei einigen wenigen Axonen fanden die Wissenschaftler sogar bis zu 50 Synapsen, die von dieser Nervenfaser zu einer anderen Zelle führten. Diese Axone zeigten zudem oft in sich verknäulte Abschnitte, die fast direkt auf der Oberfläche der mehrfach verbundenen Nachbarzelle lagen.

„Das deutet darauf hin, dass einige prä- und postsynaptische Zellpaare einen guten Grund dafür haben, stärker miteinander verknüpft zu sein als normalerweise typisch“, schreiben die Forschenden. Welcher  Grund dies ist und was diese Axone von anderen unterscheidet, ist jedoch noch nicht geklärt.

Viele Fragen offen

Um diese und weitere neuentdeckte Eigenheiten unseres Denkorgans weitergehend zu erforschen, hat das Team seine Scans mitsamt zugehöriger Software-Tools für andere Neurowissenschaftler zugänglich gemacht. Auf einer speziellen Plattform können diese nun gezielt bestimmte Zelltypen, Cortexschichten oder neuronale Verknüpfungen näher analysieren.

Shapson-Coe und seine Kollegen hoffen, dass einige der noch offenen Fragen so geklärt werden können. „Weitere Untersuchungen dieser Ressource könnten wertvolle Einblicke in die Geheimnisse des menschlichen Gehirns liefern“, schreiben sie. (Science, 2024; doi: 10.1126/science.adk4858)

Quelle: Science

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